Überlegungen


Ohne Ziel lief Liana durch die Straßen, durch Parkanlagen Potsdams. Dieser Anwalt war ihr anfangs so sympathisch gewesen. Wie konnte er behaupten, Alina sei tot? Er musste sich irren, schließlich hatte sie die Frau gesehen, und zwar ziemlich lebendig. Sie bemühte sich, etwas Ordnung in ihr Gedankenchaos zu bringen. Auf der Liste, die sie bei Sergiu zu Gesicht bekommen hatte, standen einige Personen, die ihr nicht unbekannt waren, Bettina, der Laborassistent Mario Lehmburger sowie der gute Dr. Klingberger. Wenn dieser Arzt wirklich Versuche an Menschen durchgeführt hatte, was Liana ihm durchaus zutraute, erklärte dies natürlich auch, warum Bettina nicht zur Polizei ging. Als Mittäterin hatte sie sich genauso schuldig gemacht wie Klingberger. Doch auch der Rechtsanwalt unternahm diesbezüglich nichts. Dies war sehr merkwürdig. Liana fand dafür keine Erklärung. Ein Verbrechen konnte doch nicht totgeschwiegen werden, nur weil diese Angelegenheit nicht an die Öffentlichkeit sollte. Liana fiel die Reaktion des Anwalts ein, als er sich nach Veits Alter erkundigte. Er war ganz bleich geworden, redete sich mit dem Unfall heraus. Es war zu ersichtlich, dass es mit Veit zu tun hatte. Dieser süße kleine Fratz schien der Schlüssel zu allem zu sein und ihn zu beschützen, lag in ihrer Hand. Vielleicht war er der Sohn der beiden Vermissten, hatte der Rechtsanwalt nicht Ähnliches gesagt? Vor Lianas geistigem Auge sah sie Veit auf einem OP-Tisch festgeschnallt, er weinte herzzerreißend.

Plötzlich schreckte sie zusammen. Ein Arm legte sich über ihren Nacken, gleichzeitig spürte sie etwas Kaltes an ihrem Hals. Ihr stockte der Atem.

»Hallo Frau Dr. Majewski. Sie werden mich brav begleiten und mir einige Fragen beantworten.« Mario Lehmburger presste mit seiner kräftigen Hand Lianas linke Schulter bis sie schmerzte. Liana starrte die schummrig beleuchtete Straße hinunter. Keine Menschenseele ließ sich hier blicken. Sie war allein und dem Kerl, in dessen Gewalt sie sich befand, traute sie alles zu. Ihr Hals schien wie zugeschnürt, ihr Magen rebellierte heftig. Mehrmals musste sie schlucken. Wie eine Warnung sah sie vor ihrem geistigen Auge Bettina vor sich, gequält, gedemütigt und verwirrt.

»Wo sind Veit und Klingberger?« Mario drängte sie in eine schmale Seitenstraße. Ihre Knie zitterten, nein ihr ganzer Körper. Oh, Gott, was stand ihr nur bevor? Das kalte Ding an ihrem Hals gehörte bestimmt zum Lauf einer Pistole.

Scheiße!

Ihr Leben durfte doch noch nicht zu Ende sein.

»I ... Ich bin freigestellt.« Ihre Stimme klang ganz fremd. »Ich weiß nicht, wo Klingberger ist.« Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie kämpfte gegen die Panik, die ihren Verstand zu packen drohte.

»Wir werden sofort zu Ihrem Wagen gehen und dann fahren sie mich zu Veit, klar?«

Liana schluckte, um den lästigen Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. Sie musste Mario irgendwo hinführen. Veits Versteck durfte sie nicht preisgeben. Andererseits hatte sie Frau Sperling versprochen, Veit zu holen, er brauchte vielleicht bald seine Bluttransfusion. Hier und jetzt sollte ihr etwas einfallen, unmöglich konnte sie Veit im Stich lassen. Eventuell gelang es ihr ja unterwegs, Mario zu überwältigen oder ihn mittels einer List loszuwerden. Diese Situation bedurfte eines klaren Kopfs. Unter diesen Voraussetzungen eine Herausforderung.

»Ich warne Sie, Dr. Majewski. Ich scheue nicht davor zurück, abzudrücken. Ihnen sollte klar sein, welche Folgen ein Schuss durch ihren Hals hätte. Auch wenn es ein sehr hübscher Hals ist und es jammerschade wäre, wenn ich Ihren wohlgeformten Körper unter der kalten dunklen Erde verscharren müsste.«

Verscharren?

Ihr Atem schien im Hals steckenzubleiben. Genau das war doch sein Ziel, sich an ihrer Angst zu ergötzen. Sie durfte nicht mitspielen. Am besten sie täuschte Gleichgültigkeit vor.

»Sie haben Klingbergers Sohn entführt. Wo ist er?« Liana schmerzte die Schulter von Marios kräftigem Griff.

»Bettina hat ihn mir anvertraut.« Sie stöhnte auf, als Mario noch fester zudrückte. »Hören Sie, wenn Sie sich um den Bengel kümmern, bin ich diesen Plagegeist los.« Sie spürte Tränen in ihren Augen. Oh verdammt! Sie blinzelte mehrmals, schluckte, um nur nicht ihre wahren Gefühle zu zeigen.

»Dann wirst du mich jetzt zu ihm bringen. Sofort!«

Liana nickte. Kein Ton hätte sie in diesem Atemzug über die Lippen gebracht.

Da! Die Straße hinunter kam ihnen jemand entgegen. Liana sah dadurch ein Licht in dieser Dunkelheit. Es musste ihr gelingen, dem Fußgänger auf ihre Lage aufmerksam zu machen.

»Dr. Majewski! Keine Schwierigkeiten, sonst wird es bitter für Sie enden.« Mario unterstrich die Aussage, indem er Liana den Lauf der Pistole fester in die Haut drückte. Sie spürte das runde Metall. Während sie weiter gingen und der Passant auf sie zukam, schien Mario seine Kräfte an ihrem Körper auszulassen. Liana presste die Lippen aufeinander, um nicht aufzustöhnen.

»Auch nur ein Laut und ich drücke ab.« Er flüsterte, denn der Fußgänger war nur noch wenige Schritte entfernt. Liana suchte Blickkontakt zu dem Passanten, doch der Mann schaute mit hängendem Kopf nur auf den Gehweg. Sie durfte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Ihr musste doch etwas einfallen. Der Mann lief genau in der Mitte, schien sie beide gar nicht wahrzunehmen. Mario zerrte Liana zur Seite, um den Fußgänger vorbei zulassen. Abrupt blieb der Mann vor Mario stehen, sah jetzt auf. Liana suchte zu ihm Blickkontakt. Doch er blickte nur zu Mario.

»Herr Lehmburger. Wie wunderbar, Sie zu treffen.«

»Verschwinden Sie«, fauchte Mario. Liana glaubte, sein Griff würde ihre Schulter zerquetschen.

»Ich werde Sie nicht lange aufhalten.« Der Mann starrte Mario in die Augen, kam unterdessen langsam näher. »Sie nehmen sofort die Pistole unter dem Tuch herunter und lösen Ihren Griff.« Seine Stimme verbarg einen wundersamen Klang, der augenblicklich eine tiefe Erinnerung hervorrief. Nur konnte Liana nicht bestimmen, woran sie dabei denken musste. Es war ein merkwürdiges Phänomen. Als sie das Gesicht des Mannes in dem dürftigen Licht erfasste, erkannte sie Victor aus dem Wohnzimmer von Sergiu. Seine Augen sahen seltsam aus, nur fehlte eine vernünftige Beleuchtung, um Einzelheiten zu erkennen. Mario nahm tatsächlich seine Hände von ihr.

»Sie geben mir die Pistole.« Victor starrte Mario noch immer an. Kein Wimpernschlag, keine Regung verließ Marios Gesicht. Liana schien es, als haben Victors Worte den Kerl eingefroren. Wie ferngesteuert überreichte er die Waffe. »Sie werden Sergiu vergessen sowie Dr. Majewski. An das Team aus dem Versuchskeller erinnern sie sich nicht. Ihren Namen, Ihre Vergangenheit ist hiermit erloschen und nun gehen Sie nach Hause unter die Brücke, wo die anderen Obdachlosen auf Sie warten.«

Liana fasste es nicht, aber die Worte von Victor wirkten wie ein unumstößlicher Befehl, dem Mario gehorchen musste. Mit hängenden Schultern trottete der sonst so von sich eingenommene Mario Lehmburger davon. Liana bemerkte ihren Blick, wie sie dem Kerl nachschaute. Sie machte den Mund zu. Ihre Anspannung ließ nur langsam nach. Jetzt konnte sie erst mal tief durchatmen. »Wer sind Sie?« Liana sah zu Victor. »Wird das lange bei ihm anhalten?«

Victor drehte seinen Kopf zur Seite. »Nicht in meine Augen sehen, das wäre zu verführerisch für mich.«

Ihr war fast nach Lachen zumute. »Wie bitte? Würden Sie mich dann auch hypnotisieren?« Erleichterung breitete sich in ihr aus.

»Mein Befehl an Lehmburger ist permanent. Ich habe nicht vor, ihn jemals zurückzuziehen. Verzeihen Sie bitte. Ich war unhöflich und habe gar nicht auf Ihre Fragen geantwortet. Mein Name ist Victor. Ich bin ein einfacher Vampir. Solange Sie mir nicht in die Augen schauen, sind Sie sicher.«

Liana musste bei dem Wort Vampir lachen. »Großartig! Danke für Ihre Hilfe.« Ein humorvoller Retter. Dabei hatte sie schon ihre letzte Stunde vor sich gesehen. Victor kam im richtigen Augenblick. Länger hätte sie die Anspannung dieser Situation nicht durchgehalten. Sie rieb sich über das Gesicht. Sie hatte alles unbeschadet überstanden. Aber die Angst saß noch tief, das musste sie jetzt erst mal verdauen.

»Kommen Sie, ich lade Sie auf einen Drink ein, dann können Sie den Schreck verarbeiten.« Victor deutete die Straße hinunter, von wo er gekommen war. »Dort unten ist ein nettes Lokal.«

Liana nickte. Ihre Knie zitterten mittlerweile mehr, als in Marios Gewalt. Ihr schien diese Situation irgendwie verdächtig. Möglicherweise hatten Mario und Victor das vorher abgesprochen und diese angebliche Hypnose war nur vorgetäuscht. Doch welchen Sinn sollte dieser Aufwand erfüllen? Um das herauszufinden, ging sie mit.


Kurz darauf saßen sie im Lokal, auf dem Tisch stand eine Flasche Rotwein. Lianas Bedenken ebbten ab. Victor schien kein Ganove zu sein. Mit seiner höflichen zuvorkommenden Art hätte er sich mit Mario gewiss nicht eingelassen.

»Möchten Sie vielleicht eine Kleinigkeit speisen?« Victor reichte ihr die Speisekarte.

»Nein, danke. Ich bekomme jetzt keinen Bissen runter.« Victor nahm sein Glas und Liana stieß mit ihm an. »Danke noch mal für Ihre Hilfe.«

Seine kantigen Gesichtszüge wirkten trotz allem weich und seine Haut war so makellos, wie die eines Models aus einem Katalog für Herrenmoden. Victor nickte lächelnd. Er trank einen Schluck und stellte das Glas ab. »Eine attraktive Dame wie Sie, in den Händen von diesem Schurken zu wissen, wäre für mich unerträglich.« Er lehnte sich zurück. »Um ehrlich zu sein, habe ich Mario Lehmburger beobachtet. Wie ein Fuchs ist er Ihnen nachgeschlichen.«

Dann war die Situation doch ganz anders. »Mir war nicht bewusst, verfolgt zu werden. Nochmals vielen Dank.«

Victor nickte. »Sie wurden da in eine sehr schmutzige Sache hineingezogen.« Liana fiel auf, wie er sich bemühte, ihr nicht in die Augen zu sehen. Es schien ihm schwer zu fallen, vermutlich wollte er auch nicht unhöflich an ihr vorbeischauen. »Das wird mir langsam klar.« Erneut wich er dem Blickkontakt aus. Liana fragte sich, ob der Kerl ein bisschen paranoid war oder ob er konkret seine Mitmenschen beeinflussen konnte. »Wie funktioniert das? Ich meine, wie haben Sie Lehmburger hypnotisiert?« Ihr Gegenüber hatte ein anziehendes Äußeres, auch wenn er schon etwas älter war.

»Diese Fähigkeit kann auch sehr hinderlich sein.« Seine Augen hatten einen besonderen Glanz.

»Mir kommt es eher praktisch vor, wobei, ich glaube nicht wirklich daran.«

Victors Lächeln war die reinste Sünde. »Ach ja? Nehmen Sie sich bitte vor, auf keinen Fall zu tun, was ich Ihnen jetzt gleich sagen werde. Und dann schauen Sie mir in die Augen.«

Liana befolgte seine Worte, einfach zum Spaß. Das würde nie klappen, sie hatte einen viel zu starken Willen. Seine Stimme klang zwar samtig und seidig, fast einschmeichelnd, aber sie war Herr ihrer Sinne, er konnte sie nicht beeinflussen.

»Geben Sie mir Ihre Telefonnummer.« Sie lachte innerlich. Niemals. Das sollte er besser vergessen. Sie spürte ihr siegessicheres Strahlen, wie sie ihn anschaute. Er senkte seinen Blick.

»Sehen Sie, auch bei Ihnen funktioniert es.«

Unmöglich!

Fassungslos starrte sie auf das Kärtchen in seiner Hand, das sie ihm wohl gegeben haben musste. Ihre Handtasche lag sogar noch geöffnet auf ihrem Schoß. Erst jetzt bemerkte sie, wie ihr Mund offen stand. Schnell schloss sie die Lippen. Victor legte seine Hand auf die ihre und schob sie samt der Visitenkarte zurück. Sie hatte als Ärztin selbstverständlich von Hypnosetherapie und dergleichen gehört, doch diese hatte keine Langzeitwirkung und war aus diesem Grund für die Medizin nicht wirklich nützlich. Sie selbst hatte sich bisher für nicht hypnotisierbar gehalten, denn ein Show-Hypnotiseur hatte sich an ihr einmal die Zähne ausgebissen. Es hatte nicht funktioniert. Aber dieser Mann hier könnte mit dieser Fähigkeit eine ganze Armee befehligen. Ein beängstigender Gedanke.

»Sie müssen sich deshalb nicht vor mir fürchten.« Victor nahm einen Schluck Wein. »Ich bemühe mich, ehrlich zu sein und diese Gabe nur im Notfall zu benutzen. Mario Lehmburger, denke ich, war so eine Notsituation.«

»Das ist wirklich beeindruckend. Wo haben Sie das gelernt?« Ein sehr interessanter Mann, dieser Victor.

Er knetete seine Lippen, als suche er nach den passenden Worten. »Gelernt ist der falsche Ausdruck. Es wurde mir in die Wiege gelegt. Alle Vampire verfügen über diese Fähigkeit.« Er verzog keine Miene.

»Vampire, schon klar.« Was bezweckte er mit diesem Quatsch? »Sie machen sich über mich lustig.« Vermutlich versuchte er witzig zu sein, dabei hatte er das gar nicht nötig.

»Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund, warum ich das tun sollte.« In seinem Gesicht erschien nicht mal ein Hauch eines Grinsens. Möglicherweise glaubte er sogar das, was er da sagte. Eine Gegenfrage könnte sein wahres Motiv zutage fördern.

»Nennen Sie mir einen Menschen, der nur Dinge tut, für die er einen vernünftigen Grund hat.«

Er stutzte sichtlich. »Touché.« Sein Lächeln war so geheimnisvoll und doch auch vertrauenserweckend. Liana versuchte, den Sinn in seinem Spielchen zu erkennen. Verrückt schien er nicht zu sein, aber Vampire, das war natürlich völliger Blödsinn, eine Erfindung aus Hollywood. Ein gutaussehender Mann, vielleicht Mitte vierzig, rettete ihr das Leben. Sie mochte ihn, anfangs. Warum zerstörte er diese Sympathie? Liana fehlte die Idee für den Sinn seiner Behauptung. Sie musste ihn in die Enge trieben. »Haben Sie noch einen anderen Beweis für Ihr Vampirdasein?«

Victor blickte nach links, suchte in seiner Erinnerung wohl nach etwas, das er ihr jetzt auftischen konnte. »Ich denke, ich habe es nicht nötig, das demonstrieren zu müssen.« Er lächelte wieder, doch diesmal breiter und Liana zuckte zusammen, als sie lange Reißzähne in seinem Gebiss sah. Eindeutig hatte der Typ nicht alle Tassen im Schrank. Die meisten Freaks, die sich mit Vampirzähnen und Kontaktlinsen ausstatteten, sich in einer bestimmten Szene herumtrieben, gehörten doch einem jüngeren Jahrgang an. Victor passte für ihren Geschmack da nicht rein. Sie beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Danke noch mal für Ihre Hilfe. Ich muss jetzt gehen.« Sie stand auf.

Victor brachte sie aus dem Lokal und verabschiedete sich vor der Tür von ihr. »Ich würde Sie gern nach Hause fahren.« Das hätte er wohl gern.

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.« Um ihre Gedanken zu sortieren, sehnte sie sich nach einem kleinen Spaziergang.


Traian fand sich auf dem Waldboden wieder.

Razvan hockte neben ihm. »Hey Mann. Das ist aber nicht normal, oder? Was für ’n Zeug nimmst du?«

Noch leicht benommen setzte sich Traian auf. Ein schmerzender Druck herrschte in seinem Kopf. Dies war nun schon der zweite Blackout. Ein merkwürdiges Gefühl, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. Er musste damit rechnen, dadurch in eine brenzlige Situation zu kommen.

»Was ist denn passiert?« Zum ersten Mal war er froh, dass Razvan an seiner Seite war und ihm berichten konnte.

»Was passiert ist?« Razvan starrte ihn an. »Mann, du hast dich auf dem Boden gewälzt, deinen Kopf gehalten und gestöhnt, als würde deine Birne zerplatzen. Dann bist du umgefallen und völlig weggetreten. Was ist das denn für ein Trip?«

Das hörte sich beängstigend an. »Weiß nicht. Hat nichts zu bedeuten.«

Razvan klang sarkastisch »Ach. Hat nichts zu bedeuten?« Er stand auf. »Bist du so ‘n Schizophrener?«

Dieser Druck in Traians Kopf wollte einfach nicht nachlassen.

»Ich ... ich hab heute noch was vor.« Razvan ging drei Schritte zurück. »Wir sehen uns später, in Ordnung?«

Hastig drehte er sich um und verschwand im Wald. Eigentlich fühlte sich Traian ohne ihn sowieso viel wohler. Sein zu Hause war allerdings nicht mehr sicher. Razvan würde bestimmt Manuel herlocken und wer weiß wen noch. Auch Klingberger musste verschwinden. Noch immer vom Kopfschmerz geplagt, eilte Traian zu seiner Behausung. Seine Bettdecken stopfte er in einen olivfarbenen Seesack. Kostbare Wertgegenstände, die er in kleinen Felsspalten versteckt hatte sowie zwei Seile, Klebeband, Kabelbinder und fünf Kerzen packte er zusammen. Er hatte bereits einen Plan. Oben am Bahndamm gab es eine Weiche. An dieser Stelle fuhren die Güterzüge wesentlich langsamer. Vermutlich lag es an einem Defekt der alten Schienen. Es sollte für ihn kein Problem sein, unbemerkt hier aufzusteigen.

Halt! Unmöglich konnte er verschwinden, ohne Liana noch einmal gesehen zu haben. Zuerst musste er noch zu ihr. Wie eine Kostbarkeit zog er ihre Visitenkarte heraus. Ein Hauch ihres Parfums stieg ihm in die Nase. Er schloss die Augen, rief sich alle Einzelheiten der letzten Begegnung mit ihr wach. Ihre Haut fühlte sich wie feinste Seide an. Ihre runden Lippen, er hatte sie nicht geküsst, doch jetzt wünschte er sich, er hätte es getan. Er spürte, wie die Sehnsucht nach ihr in seinem Inneren zu schmerzen begann. Mit jedem weiteren Gedanken an Liana wurde es schlimmer. Sein Herzschlag, ja sein Atem ging schneller. Er musste zu ihr, augenblicklich. Er versteckte seine Habseligkeiten im Wald, um sich auf den Weg nach Berlin zu machen, in die Wrizener Straße, wo Liana wohnte.

Eigentlich ging Traian den Menschen eher aus dem Weg, aber es gab auch Situationen, in denen er sie bewusst aufsuchte, wenn er etwas Bestimmtes haben wollte. Allerdings blieb es ihm rätselhaft, warum er ausgerechnet für eine menschliche Frau derart intensive Gefühle entwickelte. Seine Hände fühlten sich feucht an, als er auf den Klingelknopf drückte. Es öffnete niemand. Traian holte sein Messer hervor und fummelte am Schloss herum, bis es aufsprang. Um herauszufinden, hinter welcher Tür Liana wohnte, brauchte er nicht auf die Namensschilder blicken. Ihre Energie, ihr Duft verriet ihm alles. Als er die Stufen bis zur ersten Etage hochstieg, wusste er sofort, hier war er richtig. Er vernahm keinen Laut aus der Wohnung. Er spürte keine Lebendigkeit. Liana musste schon länger fort sein, ihre magische Energie war verflogen.

Der Schmerz der Sehnsucht, der Enttäuschung bohrte sich stechend in sein Herz. Traian schloss die Augen und ließ seinen Kopf gegen das Türblatt fallen. Er könnte sich in ihrer Wohnung umsehen, sich ein Kleidungsstück von ihr mitnehmen. Aber das wäre ihr gegenüber nicht fair. Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich wieder auf. Klingberger musste noch weggeschafft werden und das möglichst, bevor die Sonne aufging. Er berührte mit seinen Lippen ihre Visitenkarte, legte sie dann auf den Fußabtreter. Er wusste nicht, wann er zurückkehren würde, nur wie schmerzlich die Gedanken an Liana waren.


Auf der Autofahrt nach Hause fühlte Liana das Chaos in ihrem Kopf wachsen. Victor war ein faszinierender Mann, selbst wenn er ihr auch ein bisschen durchgeknallt vorkam. Mario Lehmburger würde sie vermutlich nicht wirklich vergessen, jedenfalls sollte sie gut aufpassen und sich nicht wieder von fremden Männern verfolgen lassen. Sie überlegte, gleich jetzt zu Veit zu fahren. Nach diesen bewegenden Erlebnissen kam ihr etwas Ablenkung sehr gelegen. Sie konnte ebenso gut im Auto ein paar Stunden schlafen. Zum Frühstück dann schon bei Veit zu sein, gab ihr einen Lichtblick, zumal Frau Sperling sie immer so verwöhnte. Außerdem fielen ihr bei Dunkelheit mit Sicherheit eher eventuelle Verfolger auf, als am Tage. Sie musste davon ausgehen, dass Klingberger wieder auf freiem Fuß war, falls Traian ihn nicht ins Gefängnis gesperrt hatte. Nur kurz wollte sie zu Hause vorbei fahren, um sich umzuziehen. Bereits auf dem letzten Treppenabsatz fiel ihr ein kleiner weißer Zettel auf ihrer Fußmatte auf.

Wer könnte sie aufgesucht haben? Liana hob die Karte auf und betrachtete ihre eigene Visitenkarte. Offensichtlich hatte sie diese heute Nachmittag verloren, als sie die Wohnung verließ. Während sie den Schlüssel umdrehte, damit auch die Visitenkarte, die sie in der gleichen Hand hielt, entdeckte sie einen braunen Schmutzfleck. Wie ein Geistesblitz fiel ihr Traian ein. Er war hier gewesen. Neulich nach seiner panischen Flucht musste er die Karte, die sie ihm noch geben wollte und dann vor Schreck fallengelassen hatte, im Wald gefunden haben. Ihr Herzschlag verdoppelte sich augenblicklich.

Traian!

Sie schaute sich suchend um, doch auf dem Treppenabsatz blieb es still. Sie spürte eine beißend Leere in sich. Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung geschrien, während sie die Tür hinter sich schloss. Warum hatte er nicht seine Karte dagelassen, sie hätte ihn wenigstens anrufen können. So gab es nichts von ihm, keine Telefonnummer, keine Adresse, ja nicht mal einen vollständigen Namen. Als Polizist hatte Traian bestimmt nicht sehr oft die Möglichkeit, ein paar private Stunden zu genießen, eigentlich ähnlich wie ihre Arbeit als Ärztin.

»Traian, Traian, Traian«, flüsterte Liana. Ihre quälende Sehnsucht nach ihm drängte einige Tränen hervor. In diesem Augenblick hätte sie alles für ein kurzes Treffen mit ihm gegeben. Dieses fantastisch prickelnde Gefühl, als er sie berührte. Ein Kuss von ihm würde sie ihren Verstand kosten. Sie versuchte sich auszumalen, wie ihre Lippen sich auf seinen anfühlten, wie ein Kitzeln durch sie hindurchströmte. Allein diese Vorstellung entfachte ein kleines Feuerwerk in ihrem Schoß. Noch immer stand sie im Flur, mit dem Rücken an die Tür gelehnt. Wie konnten Gedanken an einen Mann so intensiv und so wirklich sein? Sie bemerkte, wie der Ärger in ihr hoch kroch. Sie hatte die Gelegenheit, Traian zu sehen, verpasst. Ihre Sehnsucht nach ihm würde sie in den Wahnsinn treiben. Es gab nur dieses Waldstück, welches eine Verbindung zu ihm zu sein schien. Vorgestern im Wald hätte sie ihn fragen sollen, nach seiner Telefonnummer, aber auch das hatte sie vermasselt. Das war dumm von ihr, richtig dämlich. Jetzt war erst recht keine Zeit, sich mit ihm zu treffen. Hannah und Veit warteten. Sie atmete tief, als sie ins Schlafzimmer zum Schrank ging. Sie nahm eine Jacke heraus und schob die Schiebetür mit dem Spiegel zu.

Doch statt ihres eigenen Spiegelbilds sah sie, gleich einer Vogelperspektive, sich selbst durch jenen Wald laufen. Wie gefesselt starrte sie auf die Szene, die klar wie ein Film vor ihr ablief. Klingberger folgte ihr, dabei wirkte der Kerl so stümperhaft, dass es Liana schon peinlich war, den Kerl nicht bemerkt zu haben. Traian hielt sich im Gebüsch versteckt. Er hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Sie sah sich zum Auto gehen und davonfahren. Die Szenerie verblasste, lediglich ihr Spiegelbild blieb übrig.

Plötzlich schien ihr alles klar zu sein. Traian war gar nicht an ihr interessiert. Es ging ihm allein um Klingberger. Vermutlich war sie dort zu einem ungünstigen Zeitpunkt aufgekreuzt, deshalb hatte Traian sie zu ihrem Auto begleitet, er wollte sie loswerden. Nein, er hatte sich ihr gegenüber nicht abweisend verhalten und welchen Grund sollte er heute mit seinem Besuch hier verfolgt haben? Da war es wieder, dieses Gefühl von schmerzender Sehnsucht. Augenblicklich kam sie sich lächerlich vor. Eine Erscheinung in ihrem Spiegel, wie konnte sie überhaupt darüber nachdenken? Sie betrachtete sich selbst.

»Ich glaube, ich sehe dich das erste Mal«, flüsterte Liana sich zu. War sie das wirklich? Ihre Gesichtszüge erstarrten. Das Spiegelbild veränderte sich, wurde immer fremder, bis sie darin Alina deutlich erkannte. Ein Gemisch aus Liana und Alina. Es sah eigenartig, erschreckend aus. Liana wich ein Stück zurück.

Alina öffnete die Lippen. »Hab keine Furcht. Versuche dich zu öffnen, die Tür zu dir selbst aufzustoßen. Du kannst so viel mehr.« Liana sah auf das Spiegelbild. Alina verschwand mit ihren letzten Worten. Liana musste heftig schluckte. Drehte sie jetzt durch? Diese Erscheinung wirkte geisterhaft. All die Male davor hatte Alina lebendig und existent gewirkt. ›Alina Constantinescu‹ so stand der Name in dem Ausweis, den sie bei dem Rechtsanwalt in den Händen gehalten hatte.

Das war alles Blödsinn. Geister gab es nicht. Liana setzte sich auf ihr Bett, dabei grübelte sie nach einer Erklärung. Bucuresti hatte geradezu euphorisch reagiert.

»Sie haben Alina gesehen? Dann hat Victor also recht. Sie haben außergewöhnliche Fähigkeiten.« Mehrmals hatte der Anwalt sie gebeten, zu bleiben und zu helfen. Er wusste mehr, viel mehr, als er verraten hatte. Eventuell sollte sie sich mit dem Rechtsanwalt noch einmal treffen. Dieser Victor war mit ihm ja offensichtlich befreundet. Er behauptete, ein Vampir zu sein. Gab es sie am Ende wirklich, Vampire?

Nein! Unsinn! Andererseits sagte man ihnen hypnotisches Können nach. Augenblicklich sah sie Alinas Foto aus dem Pass vor sich. Was, wenn die Familie Constantinescu Vampire waren? Hatte Klingberger sie deshalb untersucht, um mehr über diese Spezies zu erfahren? Wie ein Blitzschlag traf sie ein Gedanke.

Veit war kein anämisches Kind, er musste ein Vampir sein, der Blutkonserven benötigte, um zu leben. Deswegen sprach nie jemand seinen Satz zu Ende, wenn es um ihn ging. Bettina hatte sich vermutlich für eine künstliche Befruchtung hergegeben. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Vampire! Diese phantastischen Geschichten um blutsüchtige Wesen, dafür gab es keinerlei Beweise. Und doch musste sie wohl oder übel anfangen, das Ungeheuerliche in Betracht zu ziehen. Victor, ein erwachsener, intelligent erscheinender Mann, behauptete ein Vampir zu sein, hatte Reißzähne, konnte Menschen beeinflussen. Bisher hatte sie ihn noch nie bei Tageslicht gesehen. Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Diese Überlegungen waren zu lächerlich, vollkommen aus der Luft gegriffen. Sie schnappte sich ihre Handtasche und verließ die Wohnung.


Wenig später eilte Traian mit seinem Seesack auf dem Rücken und seinen drei kleinen Freunden zu Klingberger. Diesmal löste er den Knoten an den Fußfesseln, zog Klingberger aus dem Versteck und forderte ihn auf, sich zu erheben. In der Ferne konnte er den Zug hören. Klingberger spielte den Kraftlosen, aber vielleicht war er das auch.

Egal, Traian zerrte ihn an den Haaren hoch, befreite ihn als Nächstes von seinem Knebel.

»In deinem Kopf sind kranke Gedanken.« Klingberger sprach leise. »Wir haben damals bestimmt nicht alles richtig gemacht.«

Diese Einsicht half jetzt niemandem, vielmehr begann sich Traian, über diesen Spruch zu ärgern. Ausgerechnet Klingberger würde niemals nachvollziehen können, was ihm seinerzeit durch den Kopf ging, welche Empfindungen ihn bewegt hatten, wie viele Schmerzen er über sich ergehen lassen musste. Es gab keine Vergeltung, die auch nur im Geringsten seine Qual schmälern konnte.

Oder vielleicht doch? Traian hatte eine Idee. Aber zuerst sollte der Kerl besser verschwinden, bevor er anfing, ihm auf die Nerven zu gehen.

»Eine finanzielle Entschädigung«, Klingberger stöhne leise, »wärst du damit einverstanden?« Ein erbärmlicher Versuch der Wiedergutmachung, aber das war eben typisch Mensch, der meinte, alles mit Geld regeln zu können. Traian besaß Fähigkeiten, von dem dieses Monster nur träumen konnte. Geld gab es an jeder Ecke, wenn er nur wollte. Nein. Er plante Klingbergers Zukunft angemessen zu gestalten und keine Summe, keine Reichtümer dieser Welt würden ihn davon abbringen. Traian riss das Klebeband von Klingbergers Augenlidern. Er blinzelte, versuchte nach der langen Zeit der Dunkelheit seine Umwelt zu erkennen. Für einen Augenblick tauchte Traian in die Vergangenheit, wie man ihm je eine Sonde mit Sendern in die Augenhöhlen an den Augäpfeln entlang eingeführt hatte. Traian musste ständig zwinkern, um diesen schmerzlichen Druck ertragen zu können. Ohne darauf Einfluss zu nehmen, liefen ihm permanent die Tränen aus den Augenwinkeln und niemanden hatte das damals interessiert. Das Geheimnis um die Vampiraugen hatten sie dennoch nicht gelöst. Traian bemühte sich, seine Erinnerungen zur Seite zu schieben, wandte sich deshalb seinem Opfer zu.

»Zieh dir die Sonde heraus. Bis ich dich gehenlasse, wirst du keine Schmerzen verspüren. Die letzten Tage warst du in den Händen einer Teufelssekte. Zu Hause vernichtest du sämtliche Unterlagen über Vampire in einem Feuer. Diese Tage der Gefangenschaft werden dich stets verfolgen.« Traian hielt kurz inne, um den folgenden Auftrag zu genießen. »Bis ans Ende deines Lebens wirst du an qualvollen Alpträumen leiden. Die Zeit in eurer Gewalt wirst du mit meinem Körper wahrnehmen, meine Empfindungen, meine Schmerzen fühlen. Du wirst wissen, was in jedem Atemzug in mir vorgegangen ist.« Klingberger starrte ihn mit leerem Blick an.

»Verschwinde jetzt«, forderte er, dabei spürte er eine enorme Erleichterung, diesen Kerl endlich los zu sein. Das Gefühl seiner Rache war bei ihm nicht so intensiv, wie er es sich vorgestellt hatte, aber die Gewissheit, dass dieser Arzt leiden würde, rief eine angenehme innere Ruhe hervor. Ein weiteres Kapitel seines Vorhabens konnte er nun schließen.